06.10.10

staffel 2/ episode 1


„das ist ja wie früher!“ sybille kramte nach einem kräftigen fluch. außer scheiße fiel ihr jedoch nichts ein, also bückte sie sich ohne ein wort und mit zusammengebissenen zähnen nach einem weiteren stöckchen, hob den betroffenen rechten fuß aufs linke knie und fuhr fort, sorgfältig das profil auszukratzen. beinahe ein drittel war schon geschafft, immerhin. es könnte erheblich schneller gehen, wenn die morschen zweige nicht ständig abbrechen würden. dabei war das, überflüssigerweise, ein malheur mit ansage. sie hatte schon eine ganze weile hier auf der bank gesessen und auf raiko gewartet. raiko war für ein ganzes halbes jahr zu seiner schwester nach wien gefahren, nachdem der neue hauseigentümer den mietvertrag seines antiquariats gekündigt hatte. sie hatte vergessen ihn anzurufen, mails zu schreiben, keinen versuch unternommen, kontakt zu halten, er war nicht bei facebook, sie wusste überhaupt nicht, wie es ihm ging. kein status update. auch von ihm keine meldung. möglich das er gewartet hatte. gestern dann eine sms. „zurück! pinguine morgen 15h?“ und da hatte sie gesessen, vor der trockenen plansche in der die kinder radfahren übten, bälle kullern ließen, hatte die warterei nicht ausgehalten und war schnell noch zigaretten holen gegangen.
ein kleiner junge, einer von der eifrigen sorte, hatte, vor seinem vater herlaufend „guck mal, papa, guck mal“ gerufen. in den augen diesen blick faszinierten ekels, wie ihn nur kleine kinder haben, wenn sie einen hundehaufen auf der straße liegen sehen. „und da papa, noch einer, eins, zwei, drei“, zählte er wie der blitz den betroffenen abschnitt durch. sie hatte ihn dabei beobachtet, bescheid gewusst und war auf dem rückweg zielsicher in nummer zwei getreten.
ein september nachmittag, warm wie ein sommerabend. sonnig genug, um jacke und pullover abzulegen, und, das allerwichtigste, die sonnenbrille auszuführen und es klebt einem wieder nur scheiße an den hacken. wie früher. das einzig beruhigende: die stadt hatte ihr jetzt ein früher zu bieten. früher, als ich studiert habe. früher, als ich lernen musste, meinen blick fest auf den boden zu richten, um mir nicht die schuhe zu besudeln. bis es nicht länger nötig war. als hätten die hunde ihr verhalten geändert. gerade mal drei haufen auf hundertfünfzig metern, das hätte es früher nicht gegeben. sie ließ den blick schweifen. die temperaturen erlaubten es, den kindern nebenan auf dem spielplatz oder im geviert der plansche frische windeln zu verpassen. die mülleimer, alle fünf, quollen über von pizza- und bugerverpackungen und schweren nassen windeln. sorgsam aufgetürmt. die mülleimer trugen eine windelkrone. ein pfandsammler besah sich das kritisch, schreckte davor zurück, sich auf den grund zu wühlen. selbst die spatzen trauten sich nicht einmal in die nähe. auch etwas das sie gelernt hatte: auf der straße geleerte pfandflaschen neben den mülleimer zu stellen, um denjenigen, die davon lebten, die arbeit nicht unnötig schwer zu machen. früher, das waren andere leute auf der straße mit anderen hunden. bei sybille im haus wohnte jetzt eine ehemalige topmodel-kandidatin. bemerkt hatte sie das, als eines tages ein kamerateam durchs haus tobte. meine neuen nachbarn, dachte sybille, alles ehemalige kandidaten. topmodel-kanditatinnen, dsds-kandidaten, popstars-kandidaten, keine gewinner. kandidaten wohnen in friedrichshain, gewinner im prenzlauer berg. ehemalige kandidaten mit angeleinten möpsen oder französischen bulldoggen. ich bin auch so eine kandidatin.
sybille aus neumünster, bachelor of arts im fach modedesign mit zweihundert von zweihundertzehn leistungspunkten, zehn zu wenig um problemlos die zulassung für den eignungstest zum master zu bekommen, aussichten trübe, wühlt im frisch gefallenen laub nach einem stöckchen.
warum fallen zweige von den bäumen und werden zu stöckern? auch so eine frage.

Keine Kommentare: