06.10.10

staffel 2/ episode 1


„das ist ja wie früher!“ sybille kramte nach einem kräftigen fluch. außer scheiße fiel ihr jedoch nichts ein, also bückte sie sich ohne ein wort und mit zusammengebissenen zähnen nach einem weiteren stöckchen, hob den betroffenen rechten fuß aufs linke knie und fuhr fort, sorgfältig das profil auszukratzen. beinahe ein drittel war schon geschafft, immerhin. es könnte erheblich schneller gehen, wenn die morschen zweige nicht ständig abbrechen würden. dabei war das, überflüssigerweise, ein malheur mit ansage. sie hatte schon eine ganze weile hier auf der bank gesessen und auf raiko gewartet. raiko war für ein ganzes halbes jahr zu seiner schwester nach wien gefahren, nachdem der neue hauseigentümer den mietvertrag seines antiquariats gekündigt hatte. sie hatte vergessen ihn anzurufen, mails zu schreiben, keinen versuch unternommen, kontakt zu halten, er war nicht bei facebook, sie wusste überhaupt nicht, wie es ihm ging. kein status update. auch von ihm keine meldung. möglich das er gewartet hatte. gestern dann eine sms. „zurück! pinguine morgen 15h?“ und da hatte sie gesessen, vor der trockenen plansche in der die kinder radfahren übten, bälle kullern ließen, hatte die warterei nicht ausgehalten und war schnell noch zigaretten holen gegangen.
ein kleiner junge, einer von der eifrigen sorte, hatte, vor seinem vater herlaufend „guck mal, papa, guck mal“ gerufen. in den augen diesen blick faszinierten ekels, wie ihn nur kleine kinder haben, wenn sie einen hundehaufen auf der straße liegen sehen. „und da papa, noch einer, eins, zwei, drei“, zählte er wie der blitz den betroffenen abschnitt durch. sie hatte ihn dabei beobachtet, bescheid gewusst und war auf dem rückweg zielsicher in nummer zwei getreten.
ein september nachmittag, warm wie ein sommerabend. sonnig genug, um jacke und pullover abzulegen, und, das allerwichtigste, die sonnenbrille auszuführen und es klebt einem wieder nur scheiße an den hacken. wie früher. das einzig beruhigende: die stadt hatte ihr jetzt ein früher zu bieten. früher, als ich studiert habe. früher, als ich lernen musste, meinen blick fest auf den boden zu richten, um mir nicht die schuhe zu besudeln. bis es nicht länger nötig war. als hätten die hunde ihr verhalten geändert. gerade mal drei haufen auf hundertfünfzig metern, das hätte es früher nicht gegeben. sie ließ den blick schweifen. die temperaturen erlaubten es, den kindern nebenan auf dem spielplatz oder im geviert der plansche frische windeln zu verpassen. die mülleimer, alle fünf, quollen über von pizza- und bugerverpackungen und schweren nassen windeln. sorgsam aufgetürmt. die mülleimer trugen eine windelkrone. ein pfandsammler besah sich das kritisch, schreckte davor zurück, sich auf den grund zu wühlen. selbst die spatzen trauten sich nicht einmal in die nähe. auch etwas das sie gelernt hatte: auf der straße geleerte pfandflaschen neben den mülleimer zu stellen, um denjenigen, die davon lebten, die arbeit nicht unnötig schwer zu machen. früher, das waren andere leute auf der straße mit anderen hunden. bei sybille im haus wohnte jetzt eine ehemalige topmodel-kandidatin. bemerkt hatte sie das, als eines tages ein kamerateam durchs haus tobte. meine neuen nachbarn, dachte sybille, alles ehemalige kandidaten. topmodel-kanditatinnen, dsds-kandidaten, popstars-kandidaten, keine gewinner. kandidaten wohnen in friedrichshain, gewinner im prenzlauer berg. ehemalige kandidaten mit angeleinten möpsen oder französischen bulldoggen. ich bin auch so eine kandidatin.
sybille aus neumünster, bachelor of arts im fach modedesign mit zweihundert von zweihundertzehn leistungspunkten, zehn zu wenig um problemlos die zulassung für den eignungstest zum master zu bekommen, aussichten trübe, wühlt im frisch gefallenen laub nach einem stöckchen.
warum fallen zweige von den bäumen und werden zu stöckern? auch so eine frage.

20.07.10

episode 35

„träumst du, tellertaxi, oder haben wir neuerdings selbstbedienung?“ peer saß an tisch eins und präsentierte von da aus sich selbst den gästen, sowie seinem besuch aus frankfurt seinen laden. zuerst hatte sie frankfurt für peers bruder gehalten, aber es handelte sich vielmehr um seinen klon. die gleichen blond durchsträhnten, halblangen surferhaare, die geheimratsecken blitzten schon durch, gar nicht mehr lange bis schluss war mit der ganzen herrlichkeit. erwartungsgemäß waren die beiden, genauso wach und betrunken wie sie sie am vorabend zurückgelassen hatte, pünktlich zum frühstücken erschienen. „wir bleiben hier bis die sonne aufgeht, dann gehen wir rüber zu den asis auf die wiese ins hartz vier solarium und sind um zehn wieder da.“ versprochen ist versprochen, dachte sybille, biss die zähne zusammen und brachte ihnen ohne zu wissen, was sie eigentlich genau wollten, mit einem überbetonten „aber gerne“ noch ein bier an den tisch. sie schien damit goldrichtig zu liegen, denn beide griffen sofort danach, nickten und mahlten wie gehabt mit dem kiefer. das ging seit gestern nacht so, mit den worten: „gib mir mal die karte vom robert“ hatte es angefangen. weil die ziggi karte immer irgendwo verschwand, hoben sie die von den gästen verlorenen und nicht wieder abgeholten ec karten auf, um den automaten weiterhin freischalten zu können. keiner hatte ihn kommen oder gehen sehen, aber irgendwann lag die karte von robert stadlober bei den fundsachen und peer fand es wohl cool oder witzig, sich damit jetzt lines im zum büro umfunktionierten behindertenklo zu legen. im behindertenbüroklo, genauer gesagt. man kann ja auch mal eine kleinigkeit langsamer arbeiten, insbesondere wenn man weiß, dass man es auch schneller kann, dachte sie, lehnte sich mit aufreizender gelassenheit an die schmalseite des tresens und ließ sich in das wortreiche geprotze der beiden hineinziehen. „wenn einer was auf die beine stellt hier in berlin, dann sind wir das: münchen, frankfurt, hamburg“, sagte frankfurt. „auch beim pimpern“ fiel peer ihm ins wort, „wenn du hier eine uschi mit nach hause nimmst, charmant mein ich, nur zum pennen, und sagst hier ist das sofa, bitte schön, penn da, gute nacht, dann liegt die schon in deinem bett, arm aber sexy, die erwarten das von dir: haushaltslöcher stopfen.“ meine güte, seufzte sybille. die sonne schlierte durch die ungeputzten scheiben, staub flimmerte vor ihren augen, sie ließ den kopf auf die arme sinken, stieß mit der stirn gegen die uhr, es schmerzte am handgelenk, vielleicht hatte sie letzte nacht darauf gelegen. ihr war schwindelig.
„uschi! trinkeld!“ frankfurt hatte sich eine nacht und einen vormittag von peer einladen lassen und knallte ihr jetzt einen zehner vor die nase. hab verstanden, dachte sie, haushaltslöcher stopfen und packte den schein mit spitzen fingern in ihr portmonee, sie hatte sich ein extra-fach für trinkgeld von ekligen leuten angelegt. normalerweise kaufte sie sich am nächsten tag oder, wenn es nicht reichte, nach einer weiteren schicht irgendetwas teures davon. heute hatte sich ordentlich was angesammelt. gegenüber war ein schuhladen. sie straffte ihren rücken.
„peer“ sagte sie, „weißt du was: ich geh mal eben schuhe kaufen.“

episode 34

sybille zählte die küchendielen. eins, zwei, drei, vier ... neunundzwanzig und wieder zurück. sie versuchte, sich die drei knarzenden zu merken. nebenan schlief raiko und weil sie sein schweres, gleichmäßiges, nur von leichten schnarchern durchbrochenes atmen deutlich hören konnte, schienen ihr alle selbst verursachten geräusche doppelt so laut. in ihrer eigenen wohnung bewegte sie sich gelassener, jeder ton hatte eine eigene selbstverständlichkeit, einfach weil sie die entfernungen kannte. sie hätte nach der arbeit nicht mit zu ihm gehen sollen. sie hätte einen besseren schlaf gehabt und seine hand nicht zurückweisen müssen. seitdem sie sich regelmäßig küssten und manches mal arm in arm einschliefen, verwischten die grenzen zwischen ihnen zusehends. ihr versuch, distanz zu halten, misslang regelmäßig, wenn er als rettender engel aus dem nichts auftauchte, um sie von der arbeit abzuholen. sein zuhause war ja auch näher dran und sie hatte nach der gestrigen spät- gleich wieder die frühstücksschicht und wusste bereits jetzt, während sie durch die küche tigerte, dass sie später bei ihm im antiquariat vorbeikommen würde, um dort ein bier vor dem laden zu trinken und den kopf an seine schulter zu legen.
sie horchte ins nebenzimmer, er schien sich durch ihr auf und ab nicht stören zu lassen. sie wollte sich erst hinter dem gleichmäßigen rauschen des radios verstecken, aber aufjaulende jingles, werbeunterbrechungen und vor allen dingen das hektische geschrei von gleich zwei moderatoren ließ sie das gerät bald wieder ausschalten und sie hatte begonnen, auf zehenspitzen jede bohle einzeln zu prüfen. fünfzehn, knarz, sechzehn, knarz, und achtzehn, knarz. weiter bis zum fenster. neunundzwanzig, dachte sie, ganz schön viele, das sind vier mehr als ich alt bin, machte kehrt und begann noch einmal in die gegenrichtung zu zählen: zwölf, knarz, vierzehn, knarz, fünfzehn knarz. fünfundzwanzig.stopp.
mit zwölf jahren entspricht man gerade noch so dem selbstbild einer prinzessin oder tierärztin, man beginnt erst zu ahnen, dass man da hineingeboren werden muss oder veterinärmedizin studieren, mit fünfzehn und drumherum schwärmt man für jungs oder vorbilder, mit achtzehn weiß man, was man sein will und fühlt schon wie sich das anfühlen soll und mit fünfundzwanzig steht man da und starrt den küchenfußboden an, weil es bis neunundzwanzig bloß noch ein paar schritte sind. raiko war schon so weit. sie beneidete ihn um seinen festen schlaf und darum, dass er seinen weg schon gegangen war. raiko hatte sich für eine karriere als raiko entschieden. er hockte in seinem antiquariat, wie er es gestern getan hatte, heute wieder tun würde und wahrscheinlich auch überübermorgen. ein weiteres mal den Fuß setzen und dann bachelor of arts im fach modedesign, danach wieder eine entscheidung treffen und den master machen. und dann? „von der idee zum modell zur kollektion“, hallte es ihr in den ohren, „ist es ein weiter weg, aber sie werden nie dort ankommen, wenn nicht schon die idee die kollektion repräsentiert. einigen von ihnen“, und an dieser stelle hatte frau sievken sie angesehen, das wusste sybille ganz genau, der blick brannte noch immer auf ihrer stirn, „einigen von ihnen würde ich anraten eine tätigkeit in angrenzenden bereichen anzustreben, redaktionen, agenturen, im vertrieb. oder machen sie doch einfach etwas mit print.“ genau, dachte sybille, ich gehe vor bis neunundzwanzig und mache was mit print, ich gehe nicht nach barcelona, mailand, london oder new york, ich drucke kleine stadtspatzen auf t-shirts oder taschen, lasse sie um den fernsehturm herumfliegen oder durch das brandenburger tor. weil mir nichts besseres einfällt. meine geschäftsidee. „berlin to go“, nenne ich das. accesoires für touristen. das kann ich dann bei peer im kaffee verkaufen, da muss ich ja sowieso gleich wieder hin.

episode 33

sie hatte gar nicht hingehört. „da gewesen“. eine frage vielleicht. „bist du da schon mal gewesen?“ hier und da und da und da oder dort. er war da gewesen, das stand fest. nicht einmal richtig angesehen hatte sie ihn. warum auch. sollte er doch aussehen wie er will oder wie er halt aussah: irgendeine jeans mit, wie es im katalog stehen würde, einer coolen waschung, sneaker, eine jacke, ein gesicht und einen schwarz-weiß karierten hut als szeniges i-tüpfelchen über dem ansonsten bedeutungslosen strich. immerhin: ein „i“ war er schon mal. auf seiner berlinale-tasche waren auch ganz viele i’s. „... da haben die fitnessräume in den unis, dafür fallen die lampen von der decke, die haben extra netze unter die decken gespannt deswegen, in den usa, weil die lampen immer herunter fallen. aber eigene fitnessräume! wie heißt du eigentlich? ich bin jörg.“ aha, du jörg, ich jane. sybille nickte routiniert mit dem kopf, versuchte dem rauch ihrer zigarette hinterher zu träumen. sie war ja nur hier, um zu schauen was passierte, wenn sie da war. hier, wo ihr ganz schwindelig wurde von den gesprächen, vom lachen und rufen aus den ecken und um sie herum. was ist wenn du mit jörg abziehst? mit anfassen und allem drum und dran? nach etwas von ihm greifen? in die hand nehmen, wie sie beim kochen mit raiko das aufgeschlagene ei in der hand gehalten hatte, um es für die sauce hollandaise zu trennen? das eiweiß lief zäh zwischen ihren fingern hindurch ab, während sie das eigelb behutsam hin und her gleiten ließ. ein lustiges gefühl, feucht, weich, empfindlich. man konnte es leicht zusammendrücken, ohne dass es kaputt ging. „ich habe noch nie ein ei in der hand gehabt ... jedenfalls nicht so eines“, hatte sie gekichert und die röte vom hals her aufsteigen gefühlt. nicht wegen des spruches, sondern weil sie nicht aufhören konnte damit, sich das eigelb von der einen hand in die andere zu geben und weil es ein so konkretes gefühl war. sie überlegte, was sie für eine sein könnte. eine andere, die mit jörg nach hause geht, ihn mitnehmen könnte, mitnehmen will, weil es egal ist. aber es war ein jörg. wenn so ein jörg sich einen runterholt, dachte sybille, legt er sich ein handtuch auf den bauch. auf dem bett. ohne bettdecke damit die nichts abbekommt. aber er sieht weg dabei. er kann sich nicht zusehen dabei wie die hand auf und ab ruckt, er sich einen abruckelt, durch die nase schnaufend mit halbgeöffnetem mund. er macht die augen zu dabei, danach knüllt er das handtuch zusammen und wirft es in die wäsche. wenn er es später in die waschmaschine räumt, schaut er betreten beiseite als stünde sie hinter ihm, oder eine andere eroberung aus einer anderen bar. die er wahrscheinlich nie hatte, auf die er sich aber morgens nach dem aufwachen einen runterholt. er würde also so oder so sex mit ihr haben. sie starrte ihn an. sie konnte sich einen fremden jörg beim onanieren vorstellen.

episode 32

viel zuviel zwiebeln, hol ich mir das nächste mal lieber wieder einen döner. „ohne zwiebeln, ohne knoblauch, sonst komplett“. einfacher geht’s nicht. sybille sortierte mit der einen hand die zwiebeln aus den bratkartoffeln, mit der anderen hielt sie sich das buch vors gesicht. las aber nicht sondern schielte angestrengt über den rand hinweg auf den nachbartisch. „man, mach den mund zu. geht ja gar nicht!“ durchfuhr es sie. irgendwann in der schulzeit hatten sie im biologieunterricht eine ganze stunde lang einen film geguckt über das aufzuchtverhalten von vögeln. in großaufnahme und zeitlupe. die kleine brut reckte den eltern, nach futter heischend, ihre weit aufgerissenen schnäbel entgegen. am nebentisch lief’s genauso.
sie hielt ihm mit liebevollem blick ein aufgespießtes stück fleisch vors gesicht und, als wäre das nicht schon dämlich genug, öffnete sie dabei selbst ihren mund und bekam auch prompt, noch während er die freundliche gabe kaute, etwas von seinem teller herübergereicht. abschließend hoben sie sich leicht von den stühlen einander entgegen und küssten sich. hätten sie auch von vornherein machen können: futtertausch. so wie demonstrativ verliebte teenager auf dem pausenhof ihre kaugummis minutenlang hin und herschoben. Ekelhaft! obendrein schmeckte ihr eigenes essen nach nichts anderem als nach zwiebeln. selbst das schnitzel.
und wieder schwebte die gabel quer über den tisch, zwei geöffnete münder und in die gegenrichtung und kuss. bestellt euch doch gleich zwei gerichte in einer schüssel und rührt es ordentlich durch, dachte sybille. essen in der öffentlichkeit hatte so oder so etwas entlarvendes. krummrückiges hineinschaufeln und schlingen, soße am kinn, schmatzen, schlürfen, arbeitsames gekaue. dieses fleißige das ist aber lecker! das genussgestöhne und herumgeseufze. restaurant porno. der appetit war ihr endgültig vergangen.
vielleicht kann man ja an der art, wie die leute essen, sehen, wie sie küssen, überlegte sybille. möglicherweise stieß es ihr deshalb so auf: weil sie noch die geburtstagsküsserei mit raiko auf dem mund trug. sie hatte so lange nicht geküsst und wie er da lag, schlafend, hatte sie mit ihren lippen seine umfasst. warmes weiches britzeln. schön war’s. obwohl. das wusste sie gar nicht mehr so genau. sie hatten sich kaum gerührt, wohl stundenlang, immer wieder vom schlaf unterbrochen sich geküsst, dabei die augen geschlossen gehalten. ihr eines knie zwischen seinen aber die hüfte dabei konzentriert weggebogen, um ja nichts zu spüren. schlüssel, telefon. und auch er schien darauf erpicht. regungen ohne erregungen. mal die lippen am hals des anderen, leichte bewegungen der hände, die säume entlang, nie darunter.
danach war alles wie vorher – oder auch nicht.
sie hätte ihn am telefon fragen können, ob er mitkommt zum essen. mit ihm über die paare lästern können. die waren überall. alles voller pärchen. an einigen tischen gleich zwei davon. aber sie hatten sich geküsst. die augen zu, als wäre es gar nicht wahr. alles hatte jetzt eine andere bedeutung. sagt man: hallo!
sagt man: hey ... du. geht man ans telefon. ruft man rechtzeitig zurück. sagt man: schön das du da bist!?

episode 31

sybille räkelte sich in den morgen. so gut und tief und fest hatte sie seit monaten nicht geschlafen. sie war langsam und stetig hinabgesunken wie auf einem wölkchen, im einschlafen hatte sie noch gedacht: „gleich schlafe ich.“ an dem punkt verwandelte sich das sanfte gleiten normalerweise in einen endlosen, rasenden sturz durch einen tiefen schacht. ein ewiges halbbewusstloses immmer wieder hochschrecken bis der wecker klingelte. wenn sie den noch im liegen ausschaltete, dann konnte es passieren, dass sie wie narkotisiert endlich eine art schlaf fand, aus dem sie verspannt und wie gerädert mit kopfschmerzen fünf stunden später heraustaumelte. gestern abend war es eher eine erstaunte feststellung: „ich schlaf ja gleich. tatsächlich, ich schlafe!“ ein beglücktes gemurmel. vielleicht lag’s am rotwein.
sybille setzte sich auf. es schneite immer noch. puderzuckrig und stetig. sie sah von ihrer position aus die baumwipfel umhüllt von kleinen verwirbelten flocken. verschneite bäume, das winter-gegenstück zu einem sommersonnenuntergang in prachtrosa, dachte sie, fehlt nur, dass sich eine lichtung auftut und ein scheues reh sich vorsichtig der futterkrippe nähert. eigentlich wusste sie gar nicht, wo sie war. „du hast geburtstag und dir geht’s nicht gut, also musst du in den wald!“ hatte raiko gesagt, herumtelefoniert und war mit ihr nach thüringen gefahren. „was soll ich in einer arschkalten hütte im wald“, hatte sie nach der ankunft gemault, aber er packte sie in eine wolldecke, hackte holz, machte den ofen an, kochte spaghetti mit hacksoße, entkorkte eine flasche wein, sagte: „so! essen, trinken, schlafen!“ und jetzt war sie aufgewacht um acht und glücklich. raiko schlief noch. sie stupste ihn leicht. er brummte und drehte sich auf die andere seite. „das war der schönste geburtstag seit – keine ahnung“, flüsterte sie. und: „du liegst da und brummst wie ein großer traumbär. weißt du was ein traumbär ist? du hast auf mich aufgepasst beim einschlafen, jetzt bleibe ich hier sitzen bis du aufwachst.“ vorsichtig strich sie ihm mit dem finger das haar aus der stirn. schlafenden konnte man alles sagen. wenn man sie nicht mochte, konnte man gemein sein und sie in einen albtraum stoßen, wenn man sie mochte, konnte man sie flüsternd begleiten bis sie die augen aufschlugen. sie hatte lust, ihn zu küssen. kein brennendes verlangen, nicht entflammt wie in einem groschenroman. nur so. küssen.
vielleicht liebe ich ja raiko, dachte sie, kann sein, dass ich immer schon raiko liebe, ohne es zu merken. er ist da, wenn ich ihn brauche, und er träumt gerade neben mir. jetzt kann ich ihn alles fragen. „soll ich dich küssen?“ ganz leise. hatte er ja gesagt?

episode 30

dezember. geburtstagsmonat. weihnachtsmonat. dunkler monat.
kaum sonne bis jetzt. ist es elf? zehn? vierzehn uhr? sybille hatte anlässlich ihres geburtstags einen strauß blassrosa tulpen gekauft. die sollten nach zwei tagen in der vase weit geöffnet happy birthday sagen, aber wahrscheinlich würden sie mit geschlossenen köpfen vergehen. herzlichen glückwunsch, deine tulpen sind an der dunkelheit verreckt. mal sehen wer sich meldet. eingeladen war niemand. mit raiko
rechnete sie ganz fest. der wird einfach vor der tür stehen, ganz sicher. all die anderen, was war das letztes jahr? gernegroß peer ließ dröhnend den gemachten man raushängen. die anderen hatten projekte, breiteten lebenspläne aus. raiko trotzte angeekelt im sessel. mehr unausgesprochene aversionen in der luft als gespräche. das ist wie weihnachten. in berlin ging es darum, zu verkünden, was man aus seinem leben zu machen gedenkt, in neumünster lautete die frage: „was hast du aus deinem leben gemacht?“. auch wenn das niemand direkt ansprach. lange zeit hatte sie gedacht, ausschließlich schöne erinnerungen an die familienweihnacht zu haben: sybille, eingekuschelt in einen sessel, liest bis ihr die augen zufallen, sybille spielt blockflöte, sybille sagt vor der bescherung ein gedicht auf. und jedes mal nach ihren vorführungen sagte mum: „das hat sie aus lübeck“, den blick zu oma lisbeth gewandt, strich sybille dabei mit der hand durch die haare und noch einmal mit nachdruck: „nech bille, wir lübecker töchter.“ oma lisbeth nickte und dad schwieg, runzelte nicht einmal die stirn, als sei in diesem moment gerade eine gesprächspause, konzentrierte sich auf das anzünden der christbaumkerzen und „ja“, sagte oma lisbeth, „das hat sie aus lübeck, das musische!“ opa heinrich nickte bekräftigend. dazwischen onkel werner, auch kein lübecker sondern der bruder des ehemannes einer lübecker tochter, trank seinen dritten cognac. onkel werner der zu laut atmete, mit seiner toten frau im gepäck. sybille schüttelte ihm zur begrüßung nur kurz die nikotinfinger, gab und wollte kein küsschen und nicht auf den schoss, bedankte sich bei ihm gerade mal höflich für das geschenk. „ja ich weiß ja nicht womit kleine mädchen so spielen. aber schön das es dir gefällt.“ sybille lief „schau guck mal“ zu oma und opa, die durften mit ihr spielen, dann sang sie ein weihnachtslied. „das hat sie aus lübeck!“ immer wieder. dad strich das geschenkpapier
glatt. warum redete er nicht mit seinem bruder? der lübecker zweig der familie war sich einig, dad öffnete eine weitere flasche wein, onkel werner schnaufte und trank, sybille tobte vergnügt um den tisch und aller tage friede.
ich will das nicht mehr, dachte sybille, ich will keinen solchen geburtstag und ich will weihnachten am liebsten nicht nach neumünster, ich will erinnerungen an ein eigenes leben haben, im dunklen berlin bleiben. alleine sein, das konnte sie auch allein zu haus. „das hat sie aus neumünster“, würde oma lisbeth sagen, „das eigenbrötlerische.“ sybille musste lachen.
fünfzehn uhr. einsetzen der dämmerung. wenn der dunkle tag
noch dunkler wird. bis jetzt keine sonne. die wintersonne schlägt einem tief stehend schmerzhaft in die augen, leuchtet alles erbarmungslos aus: die fingertapser um den lichtschalter herum, die staubschlieren auf den steckdosen, den abgetragenen wintermantel, zerkratzte schuhe.keine sonne bis jetzt. gott sei dank keine sonne.

episode 29

sybille sah sören direkt in die nase. grauenhaftes foto, sah dämlich aus. sie hatten sich damals wohl nach dem feiern bei mcdonalds mit geschmacksverstärktem fett versorgt, hockten zu dritt in der grellen fast food beleuchtung, die köpfe zusammen gesteckt. sie musste an dem tag eine ganze fotostrecke gemacht haben, das war inzwischen das zehnte bild, alle am gleichen tag im ordner „wochenende“ abgelegt. welches wochenende? irgendeins? alle? hätte sie mal dazu schreiben sollen. klamotten waren immer dieselben. mal hatte sören sein pete doherty hütchen auf dem hinterkopf und mal nicht, mal eine sonnenbrille auf, mal beides. jules hatte ihren kussmund-reflex angeworfen und sie hatte die kamera gehalten und daher angestrengt aufgerissene augen. der gestreckte arm beim sich selbst fotografieren erzeugt immer eine komische perspektive, überlegte sybille. entweder man blickte wie eine meute kleiner devoter hündchen nach oben und den mädchen konnte man tief ins Dekollete schauen oder man wurde von unten erwischt. was in diesem fall einen tiefen einblick in sörens nase ermöglichte. sie zoomte das bild heran. vollbildmodus. jetzt war sie fast schon drin. am inneren rand beider nasenflügel klebte eine schrundige kruste. wie der eingetrocknete kaffee, milchschaum, zucker rest in ihrem macchiato-glas. eine mischung aus blut, rotz und koks. sie hatten da gesessen mit der überheblichkeit der immer noch wachen im gesicht. dabei sah man die erschöpfte haut unter dem für die nacht angelegten make up, die kleider waren an stellen beulig und knittrig getanzt, an denen sie eigentlich perfekt sein sollten. sie hatte sich selbst fotografiert, aber sie erkannte sich nicht. wann habe ich aufgehört in den spiegel zu sehen? ich benutze ihn doch? passt die hose zu den schuhen? shirt oder bluse? pullover? ich schaue doch in den spiegel, aber ich betrachte mich nur als eine halb angesehene fremde, wie durch eine schablone, die nur ausschnitte herzeigt! ich richte mein haar, zupfe die augenbrauen, mache die wimpern, lege lippgloss auf, glänzt die nase, pudere ich sie. ich mache all das. ein gespenst aus der wohnung zu vertreiben, ist eine einfache angelegenheit: man legt ein frisches hühnerei in jede ecke, brennt einen bunten kräuterstrauß ab und hat drauf zu achten, dass währenddessen ein fenster geöffnet bleibt, damit es dann auch verduften kann. aber wenn man es sich selbst in den kopf gesetzt hatte? drei unvollendete liebesbriefe an sören lagen zerrissen auf dem fußboden, irgendetwas musste geschehen damit, ein ritual musste her, der hausmüll hatte nicht genug symbolische kraft. am besten anzünden! sybille lief in die küche, legte die schnipsel in einen kochtopf, zündete sie an und schritt, noch während ihre liebesschwüre asche wurden, feierlich zum balkon. dort ließ sie den wind seine arbeit verrichten.
„raus aus meinem kopf, geh raus aus meinem kopf, geh nach hause“. sie schrie und es war ihr egal was die nachbarn denken mochten oder die touristen auf der straße, sie wollte endlich wieder in einen richtigen tag, in die nacht, die wärme, die kälte. zu den anderen: in die grünen und blauen und braunen augen, die arme und hände. hin zu anderer haut, in anderen atem, gerüche. das eigene herz klopfen lassen und dem der anderen lauschen.

episode 28

vier minuten! vier minuten in peers auto fühlten sich an wie eine halbe stunde im stau. das mach ich nie wieder, dachte sybille, mich von peer nach hause fahren lassen. nie wieder und wenn es noch so sehr schüttet, das halte ich nicht aus. das nächste mal nehme ich ein taxi. sie war mitgefahren, weil er heute mit dem flotten karmann ghia vorgefahren war und der versuchung konnte sie nicht widerstehen. peer hatte zwei wagen, einen alten saab kombi, den er zum einkaufen und offensichtlich als ablage benutzte. durch die heckscheibe konnte man sehen, dass die gesamte buchhaltung lose im kofferraum lag. was machte er, wenn eine steuerprüfung kam? kofferraum auf und bitte sehr? dann war da eben noch der rote karmann ghia. passte gar nicht zu ihm. das war doch, was den sportfaktor anging, eher ein ladies car. mit peer hinter dem steuer verschwand die mondäne kleinstadt eleganz des wagens und das gefährt schrumpfte auf die gestalt eines möchtegern porsche zusammen.
der regen trommelte aufs dach und peers gesabbel ergoss sich über den beifahrersitz. die rotphasen waren nachts quälend lang. wo hatte peer seinen urlaub verbracht? er warf mit namen nur so um sich: ... und dieses jahr und letztes jahr ... asturien ... auf dem weg nach portugal ... südostwind ... das funzt richtig ... immer windstärke 3,5 bis 7... riesenwellen ... und so weiter und so weiter. er musste irgendwo gewesen sein wo es eidechsen gab, denn er hatte sich nach dem urlaub ein neue tätowierung gegönnt:eine mit einem tribal verschlungene eidechse.
uuuh! eine eidechse mit roten augen und roter zunge. wie gefährlich! peer hatte tagelang mit einer um die wunde gewickelten klarsichtfolie am tresen gesessen. anstatt etwas langärmliges anzuziehen hatte er die ärmel seines tshirts hochgerollt und allen seinen versuppten oberarm unter die nase gehalten. die folie sollte schorfbildung verhindern. kein schöner anblick. genauso unschön wie peers urlaubsmitbringsel: frank, der neue kollege für die cocktailschicht. ein surfkumpel von peer, den er mit den worten vorstellte: „seid nett zu frank, bei den skills die er hat könnte er überall arbeiten!“ überall? gerne, aber warum hier? der war doch nur ein kleiderständer, mehr ein optisches konzept als ein vernünftiger barkeeper. möglicherweise konnte er gute cocktails machen, geschenkt, das konnte sie nicht beurteilen, sybille hielt sich während der arbeit lieber mit prosecco am laufen. frank nahm das mit der cocktailschicht überaus wörtlich und machte tatsächlich nichts anderes als cocktails, tänzelte dabei affektiert herum und spülte ab und an mit spitzen fingern ein glas. ansonsten kumpelte er mit peer herum. es gibt eine sorte von männerlachen, überlegte sybille, die mit fröhlichkeit nichts gemein hat. so ein augenzwinkerndes puffgelächter. erst klopfen sich die ärsche auf die schenkel, dann den frauen auf den hintern und dann steigen sie in ihren roten pseudo porsche mit kindersitz. peer gerierte sich fortwährend als übervater. er hatte eine umhängetasche auf der stand:„prenz’l berger papa“.
„wart’ mal, bille, ich mach dir mal die tür auf“. endlich waren sie angekommen. peer löste den sicherheitsgurt. bitte schön, wenn es unbedingt sein musste durfte er gerne den kavalier geben und die tür aufhalten, kein problem. aber er wagte sich nicht in den regen. er stützte sich mit der rechten hand auf ihren sitz ab und griff rüber, um die tür von innen zu öffnen. die tätowierte eidechse züngelte bedrohlich auf ihre brust zu. sybille presste sich mit aller gewalt in den sitz, um eine berührung zu vermeiden, aber es war schon zu spät. wie stellt man das an: vom beifahersitz aus dem fahrer in die eier treten?

episode 27

wasser lauwarm. luft lauwarm. macht zusammen irgendwie kalt. sybille mochte nicht aus der wanne steigen und liess noch ein wenig heisses wasser nachlaufen. eine zigarette wäre jetzt schön. aber vollkommen sinnlos aus dem halbkalten badewasser zu steigen, um frierend und klatschnass durch die wohnung zu laufen und kippen und ascher aus der küche zuholen. bloss nicht mehr bewegen als nötig. die zigarette würde eh durchfeuchten zwischen ihren schrumpelig aufgeweichten fingern.
wie lange liege ich eigentlich schonhier herum? so lange wie der mozzarella im kühlschrank? der war bestimmt auchschon wieder schlecht. so lange wie die bohrmaschine von babs unbenutzt neben der tür stand? länger? so lange wie das gewürzregal darauf wartete angebracht zu werden? dafür hatte sie sich die bohrmaschine ja ausgeliehen. im sommer wollte sie das unbedingt noch an die wand schrauben und die zeit wurde langsam knapp. was solls, dachte sie, diese woche erledige ich das. erst bringe ich das regal an, dann räume ich den kleiderständer auf und dann ziehe ich die schrauben vom schutzblech nach. sie war doch wohl in der lage, ein paar löcher in die wand zu bohren! einmal kurz ausmessen und dann konnte es losgehen. entweder an die wand beim küchentisch oder links neben den herd oder rechts neben den herd oder über den herd? wenn es einmal hing dann hing es. es gab gar nicht so viele möglichkeiten, die einbauküche verhinderte gestalterisch vieles. vielleicht war das gut so. wenn sie aus drei verbleibenden möglichkeiten keine auswählen konnte, wie sollte sie dann vor einer komplett leeren, weissen wand stehend eine entscheidung treffen?
einmal war sie heimlich in sörens schlafzimmer geschlichen. das bett war nicht wie bei den meisten irgendwo in die ecke gedrückt, sondern präsentierte sich mitten im raum und an die wand hatte er ein riesiges pop art gemälde in roy liechtenstein manier gemalt. woher hatte er gewusst, dass es genau an dieser wand so toll aussehen würde? traummann mit traumschlafzimmer. dort wäre sie gerne zur ruhe gekommen.
war sie aber nicht. sie hatte zuhause gesessen und liebesbriefe geschrieben. drei angefangene liebesbriefe an sören lauerten noch immer in ihrer unteren schreibtischschublade. unvollendete briefe in einer seit monaten ungeöffneten schublade. sybille bekam einen ganz heissen kopf bei dem gedanken. sie zog den stöpsel aus der wanne, machte aber keine anstalten aufzustehen. „ich habe noch das gewürzregal in der küche anzubringen, ich habe den kleiderständer aufzuräumen, das schutzblech anzuschrauben und ich habe drei angefangene liebesbriefe an sören zu ende zu schreiben oder gleich zu zerreissen“. oh gott. vielleicht ging ja die schublade gar nicht mehr auf. die briefe in die hand zu nehmen hiess ja auch das geschriebene vor augen zu haben.
„sören“ stand da, viele male: „sören“ und „du “viele male „du, du ... du ... du ... sören ...“. sie hatte sehnsucht auf gesucht gereimt und ewich auf vergeblich und immer wieder: „ich ... ich ... ich. ein schmetterling, so flatterig, wie ein ängstlicher schmetterling auf deiner hand, so flüchtig, bloss eine sekunde auf deiner hand,...du ... sören ... ich ... du ... sören ...ich ... ich ... habe den morgen/ tau von den ziegeln/ geleckt mit den katzen/ über die dächer gestiegen/ bin ich und habe die gier/ buchstabieren gelernt/ die ich an dein bett trage/ laut für laut.“

um himmels willen, wie sollte sie das nennen? „ode an ein bett“?
das wasser war abgelaufen. also: aufstehen. regal anbringen. dann die schublade aufmachen. das gespenst herauslassen. schauen was passiert.

episode 26

fenster zumachen? sybille prüfte kritisch den himmel und hielt probehalber den arm ins freie. so ungefähr lauwarm. kalt auf keinen fall. obwohl es von drinnen so aussah. der august huschte als herbst verkleidet durch die stadt, riss gelegentlich die wolken auseinander, schob sie wieder zusammen und drückte den hofbaum hin und her. die im laufe des sommers hervor geschossenen zweige kratzten beharrlich an der hauswand. einer war praktischerweise so gewachsen, dass er exakt ihr badezimmerfenster verdeckte. sie konnte also zum baden nicht nur das rollo oben sondern auch das fenster offen lassen. das wäre sonst nicht gegangen, der typ von gegenüber führte ihr täglich sehr deutlich vor, was man alles so herzeigte, wenn man nackt durch die wohnung turnte. jeden morgen riss er unbekümmert die vorhänge auf, gähnte, kratzte sich den rücken, hüpfte zum duschen ins bad. nach dem duschen ab in die küche, wahrscheinlich kaffee aufsetzen, dann wieder zurück ins bad zum zähneputzen und rasieren. alles nackt. erst danach zog er sich nach und nach an. gott sei dank begann er mit der unterhose. er musste wissen, dass man ihn sehen konnte, er konnte sie doch auch sehen. oder schaute er gar nicht so bewusst nach gegenüber? die ganze zeit nicht einmal ein handtuch um die hüften, aber mit geschlossenem duschvorhang duschen. warum? den fussboden tropfte er doch später eh voll, denn er trocknete sich nicht ab. das wusste sie, sie sah ihn doch die ganze zeit. sie konnte einfach das hingucken nicht unterlassen. es war wie der badeausflug mit raiko. es war noch früh am tag, raiko schwann nackt durch den see. sie lag allein auf der decke, gerade vom lesen ins träumen abgeglitten, hatte sören vor augen und einen schweissfilm auf der haut, der nach sonne, see und sonnencreme schmeckte, als raiko sich nass und nackt neben sie warf. nackt da wo sie beim fernsehen normalerweise kissen und kopf hinlegte. das ging gar nicht: neben einem nackten freund liegend sich selber mit der zungenspitze den schweiss vom arm tippen und an jemand anderes denken. sie konnte den rest des tages weder hin noch wegschauen, tat so als würde sie schlafen oder lesen oder starrte angestrengt auf den see. sie hatte sich die ganze zeit innerlich nackt gefühlt. Sich, wenn sie ihn ansah, vorgestellt, dass raiko sich vorstellte, wie sie wohl ohne bikini aussah. womöglich tat der typ von gegenüber das gleiche. neben nacktbadern im bikini herumliegen ist ein bisschen wie ohne ibook in einem kaffee sitzen: man hatte einfach nichts vorzuweisen. sybille nahm ein bisschen von dem badeschaum in beide hände und pustete kräftig dagegen, dass er in richtung fenster stob.gleich noch einmal! mit einem gegenüber würde das erheblich mehr spass machen, dachte sybille, mit jemand anders zusammen in der wanne den schaum herum pusten. mit einer kleinen schwester auf der anderenseite der wanne zum beispiel. die hatte sie nie gehabt. dabei wäre das so toll gewesen: mum hätte geschimpft wegen der sauerei und sie wären heimlich kichernd in kleinen rosa bademänteln ins kinderzimmer gelaufen. ihre schwester hätte natürlich da gesessen wo sie sich jetzt hingesetzt hatte, um aus dem fenster in den himmel schauen zu können: auf der stöpselseite, wo auch der stöpselhalter angebracht war, der ihr heute so lästig ins kreuz drückte. denn als ältere schwester hätte sie ja auch ältere rechte auf die bequeme seite der wanne gehabt! nur wenn man nicht alleine ist, sitzt einer auf der stöpselseite.
sybille schloss die augen, hielt die luft an und liess sich langsam mit dem kopf unter wasser gleiten. bloss an etwas anderes denken. oder besser an gar nichts.

episode 25

sehe ich vielleicht irgendwie behindert aus, oder was? sybille kam sich doof vor. die beiden auf der bank musterten sie von oben bis unten. sie hätte eine tasche mitnehmen sollen und das fahrrad benutzen. der weg war dann doch weiter, als sie gedacht hatte. aber sie war lange nicht mehr bei jules gewesen. in der erinnerung vergass sie immer, dass sich die strecke über die beiden brücken ganz schön in die länge zog, bevor man endlich die kreuzberger seite erreicht hatte, dann lag ja auch noch der park dazwischen. was starren die beiden mich denn so an? haben die nichts besseres zu tun? sie zupfte an ihrer bluse herum. stimmte doch alles! die neuen schuhe drückten. humpelte sie möglicherweise ein wenig? blödsinn! sie schielte unauffällig an sich herunter. schick sah sie aus. jules rannte immer noch in bunten retro sneakern, engen grauen röhren und grossen shirts mit grellen prints drauf herum. sybille hatte sich genau aus diesem grund spielerisch spiessig angezogen: einen schwarzen bleistiftrock, eine blassblaue bluse mit angeschnittenen ärmeln und dazu ebenfalls blassblaue peeptoe schuhe mit einem moderaten absatz. nicht gerade bequem, alles zusammengenommen aber ein eleganter kontrapunkt, was die bemühte jugendlichkeit von jules betraf. sie nahm die auflaufform in die andere hand. seit beinahe über einem jahr stand die nun bei jules herum. sybille hatte es einige male angesprochen, viel hatten sie sich eh nicht mehr zu sagen, aber jules machte nie anstalten, sich um die übergabe zu kümmern. sicher, es war bloss eine aufflaufform, nur dachte jules denn nie daran, dass sie ihr nicht gehörte? von zeit zu zeit muss sie ihr doch mal in die finger gekommen sein! stehengelassene, vergessene oder geliehene dinge können einem nicht gehören, dachte sybille. sie für ihren teil fühlte sich jedesmal unwohl, wenn sie beim aufräumen sachen fand, deren herkunft ihr ein rätsel waren. da muss man doch einen gedanken daran verschwenden! sie konnte sich sogar erinnern, was das für ein abend war, als sie den vorbereiteten auflauf mitgebracht hatte! das war das erste gericht, das sie noch als schülerin zu hause kochen gelernt hatte! ein broccoli-kartoffel-auflauf mit sahnesauce, mit käse überbacken. mandelsplitter gehörten ebenfalls dazu. sie wusste auch, dass sie die form damals nach dem essen abgespült hatte, deshalb war ja auch dieser angebrannte käserest am rand so eine frechheit. jules hatte die auflaufform nicht nur die ganze zeit bei sich herum stehen lassen, ohne darüber nach zu denken, ob sybille die vielleicht brauchen könnte, sie hatte sie darüber hinaus noch benutzt, als ob es ihre wäre, ohne sie hinterher angemessen sauber zu machen! aber das nicht mit mir, empörte sich sybille. sie hatte die schultern gestrafft, jules angerufen und damit konfrontiert. war eh mal an der zeit, sich wieder gegenüber zu treten. das bedurfte natürlich einer gewissen vorbereitung, und so hatte sie extra ihre haare gewaschen, zu einem pferdeschwanz gebunden, noch schnell die fingernägel gemacht, auch die fussnägel verlangten nach einer sorgfältigen pediküre, waren die doch der eigentliche blickfang was ihre schuhwahl anging. die zwei gafften immer noch zu ihr rüber. jules hatte sie auch schon so komisch gemustert. „flott wie mami", lautete ihr kommentar, dabei hatte sie abschätzig gegrinst. na, gleich hatte sie es geschafft, immerhin war sie jetzt schon gleiche höhe mit denen. sie strich den rock glatt und versuchte die auflaufform auf der den beiden abgewandten körperseite zu verstecken. auf einmal sah sie sich selber, frisch manikürt und frisiert in ihrem bleistiftrock durch den park laufen. man trank und grillte, spielte ball, junge jongleure präsentierten ihre nackten oberkörper und sie trug in diesem aufzug eine auflaufform wie eine torte vor sich her.
„ich habe mich aufgebrezelt wie für ein date", durchfuhr es sie, „ich habe mich zwei stunden zurecht gemacht, um eine auflaufform nach hause zu bringen."

episode 24

babs und miri kamen herein und winkten fröhlich herüber. sybille seufzte erleichtert, endlich besuch auf den sie sich gefreut hatte. na, die konnte sie jetzt bei mum und dad platzieren, die hatten es nämlich für nötig gehalten, sie kurzfristig und „spontan", wie dad am telefon in einem affigen tonfall gesagt hatte, in berlin zu überfallen. nur alte leute sprachen von „spontanität", so als müssten sie sich etwas beweisen, dachte sybille boshaft und trat die kühlschranktür zu, anstatt sie mit einer geführten bewegung sanft zu schliessen. dad versuchte in einem fort, mit ihr zu reden: „sind das freunde von dir?" fragte er jedes mal, wenn sie jemanden begrüsste.
sybille knallte eine leere flasche mit nur leicht gebremster wucht in die altglaskiste. dieser abend hatte seinen rhythmus verloren. eigentlich hatte er gar nicht erst einen gehabt! dabei war sie doch im laufe der zeit richtig gut geworden hinter dem tresen!
heute hatte sie cocktailschicht. am anfang war das für sie der horror gewesen, wenn in der happy hour ein reisebus nach dem anderen gleichzeitig eintraf, und jeder aus der gruppe natürlich einen anderen cocktail bestellen musste, nur damit man dann unter kritischen blicken und mit kennermiene reihum jeden drink probierte. inzwischen bewältigte sie einen solchen ansturm in der regel souverän. sie konnte mit dem fuss die untere kühlschublade aufmachen während sie mit den armen in völlig entgenengesetzte richtungen arbeitete, sie war in der lage wirklich mit beiden händen unterschiedlich schnelle bewegungen auszuführen, wenn sie die flaschen wieder abstellte konnte sie das in einer für sie geradezu irrwitzigen geschwindigkeit tun und die flaschen trotzdem so absetzen das es nicht den hauch eines geräusches gab. bei ihrer ersten schicht hatte sie dabei einen lärm verursacht, dass sie dachte das glas würde jeden moment bersten. sie spürte es, wenn kollegen hinter ihrem rücken vorbeiliefen, und es war schon lange nicht mehr passiert, dass sie genau in einem solchen moment einen schritt nach hinten machte und eine ganze bestellung auf den fussboden krachte. sie kannte die abmessungen des tresens inzwischen genau und sie fühlte sich in einigen momenten, als würde sie tanzen. es war beinahe als flöge ihr alles was sie brauchte in die hand und begab sich danach wieder auf seinen platz.
der tresen war trotz seiner enge als raum gewachsen. räume die man kennt werden grösser, überlegte sybille, weil man mit ihren möglichkeiten spielerisch umgeht. damit war es heute allerdings essig. von dem moment an, als mum und dad durch die tür marschiert waren und sich genau in die ecke am cocktailarbeitsplatz gesetzt hatten, war der gesamte laden auf die grösse einer nussschale zusammengeschnurrt, wie zuvor schon ihre wohnung. beim eintreffen war mum durch alle zimmer gerauscht wie ein feldwebel, riss vorhänge und fenster auf. „hier muss mal ordentlich luft rein! lässt du die vorhänge immer halb zu? du erstickst ja hier drinnen kind!" das frisch bezogene bettzeug hob sie kritisch an die nase, um alsbald die eigenen mitgebrachten bezüge hervorzuholen. in der küche hatte sie in alle schränke geguckt, zwar keinen ton gesagt, aber fortwährend leicht den kopf geschüttelt.
und wenn sie schon bei ihr übernachten mussten und nicht in einem hotel, wie es sich für die eltern einer erwachsenen tochter gehörte, konnten sie wenigstens von ihrem arbeitsplatz fern bleiben. sybille schielte die ganze zeit mit einem auge zu mum und dad rüber und versuchte zu verstehen, was die da die ganze zeit herumplapperten, babs und miri wirkten nur mühsam beherrscht. „unsere tochter", hörte sie mum sagen, „hat ja inzwischen auch schon angefangen zu produzieren", und sybille lief es heiss und kalt den rücken hinunter. sie hatte ja gelogen, sie hatte die tasche die sie von babs und miri zum geburtstag bekommen hatte als eigenes modell ausgegeben. quasi als prototyp einer eigenen kollektion. nur so zum angeben. jetzt musste ein ablenkungsmanöver her.

episode 23

sybille nippte an ihrer pina colada, lag ganz still, überliess sich ihren regelmässigen atemzügen und horchte in den nachmittag hinein. es war auf eine vollkommene weise still. stille bedeutete ja nicht geräuschlosigkeit sondern eine art ruhiger gleichmässigkeit. ein gemurmel, ein streicheln des windes, ein wiegendes auf und ab. träge blinzelte sie in die sonne, stiess sich mit dem heraushängendem bein ab, um die hängematte in schwung zu bringen, dabei grub sich ihr fuss leicht ein und beim herausziehen rieselte der sand zwischen den zehen hindurch.
zu hause verbrachte sie die sonntage häufig bei offenem fenster auf dem bett und lauschte dem klappernden abwasch der anderen hausbewohner, den zusammenhanglosen musikfetzen und übers dach schwappte das rauschen der sonntagsflaneure aus der simon-dach-strasse in den hof. so ungern sie sich das inzwischen antat am flohmarkt rundlauf auf dem boxi teilzunehmen, so gerne lag sie einfach nur da, schaute auf die glänzende hinterhausfassade, liess sich die nasenspitze von einem hereinwehenden luftzug kitzeln, die hände von einem glas latte machiato wärmen und beschäftigte sich mit nichts. das wasserflugzeug brummte leise auf seinem rundflug, im ersten stock hustete der kette rauchende alkoholiker seinen auswurf in die spüle bis sich die mikrowelle mit einem pling öffnete und er mit seinem fertiggericht zurück ins wohnzimmer schlurfte. das war der klingende ausschnitt ihrer stadt, der in dieser zusammensetzung nur auf dem rücken liegend in ihrem schlafzimmer zu vernehmen war. eben das nur-geräusch. gerade im frühjahr oder im herbst waren die töne klarer und schienen eine weile in der luft hängen zu bleiben, eine präzision wie das farbenspiel der korallen, das man erst unter der wasseroberfläche so wahrnehmen konnte. so da zu liegen, das hatte was von einem gut austarierten tauchgang, bloss ohne den druck auf den ohren. das war ihr bisher auch erst einmal gelungen, am vorletzten tag ihres ägyptenurlaubes, die belohnung für das bestehen der abitursprüfung. eigentlich träumte sie damals von australien. obwohl sie keinen schimmer hatte, wie es da wohl aussehen könnte, wollte sie die weite des landes erkunden und einmal am great barrier reef tauchen gehen, das hatte sie sich von mum und dad gewünscht, aber die hatten ihr ägypten gegeben und lieber die wohnung in berlin gekauft, da war dann lediglich eine kleine pauschalreise drin gewesen.
nun gut, jetzt war sie ja hier. sie konnte sich nicht erinnern jemals eine so tiefe zufriedenheit in sich verspürt zu haben, wie hier an diesem einsamen sandstrand mit einem drink in der hand. sie nahm noch einen kräftigen schluck pina colada. die palmblätter wiegten sich leicht im wind und sie, umhüllt von der karibischen, feucht schwülen hitze, schaukelte sanft in der hängematte hin und her. durch ihre geschlossenen augenlider sah sie einen schwarm flamingos in seiner ganzen rosa pracht vor dem sonnenuntergang aufsteigen, von den fischerbooten stiessen pelikane ins wasser, die wellen schlugen höher auf den strand und zogen sich mit einem satten schmatzen wieder zurück und als die sonne den horizont berührte, stieg sören aus dem wasser, er trug noch das meer an seinem körper und lief auf sie zu. gleich hatte er sie fast erreicht, nur noch ein kurzer augenblick. sie hob sich ihm entgegen, seinen kräftigen schultern, er beugte sich über sie, wasser perlte auf seiner brust, tropfte auf sie herab, ein schauer rieselte über sie hinweg, vom kopf bis zu den zehenspitzen, alles zog sich zusammen, sie öffnete ihre arme, strich ihm die haare aus dem gesicht, sie wollte versinken in seinen blauen augen, suchte seinen blick, rief seinen namen ... rief ... „raiko", rief sie. wo war sören? sie hatte ihn doch gespürt! alle geräusche verstummten, alle farben erloschen, nichts regte sich mehr. immer wenn sie sören fast erreicht hatte taucht raiko vor ihr auf.
sie hatte geschlafen, sie hatte geträumt, sie lag auf dem sofa und sie hatte geweint.

episode 22

wow, die wohnung war jetzt aber mal richtig blitzblank und hatte diesen schönen leicht zitronigen putzmittel-duft. zufrieden fläzte sich sybille auf dem sofa herum. wie jedes jahr hatte sie die januar-depression gar nicht erst aufkommen lassen und sich stattdessen lieber ihrem obligatorischen jahresanfangsputzritual hingegeben. schon als kleines mädchen hatte sie von mum immer eine grosse aufräumaktion zu beginn des jahres verordnet bekommen.und worüber sie noch zu hause in neumünster immerzu gequengelt hatte, das übernahm sie jetzt ganz selbstverständlich, als ob dieses ritual ihre eigene kleine erfindung gewesen wäre. vielleicht sollte sie dieses jahr tatsächlich mal die disziplin aufbringen, und das rauchen auf den balkon verbannen, überlegte sybille und schnupperte noch einmal geniesserisch, solange diese frische noch zu riechen war. komisch, irgendetwas störte. sollte sie vielleicht das sofa noch mit dem polsterreiniger angehen? aber es roch nicht schlecht. eben nach sofa. raiko war gestern hier gewesen. sie kräuselte ihre nase, hob das kissen an und tatsächlich: raiko hatte seinen schal liegengelassen und das war genau sein geruch: nach junge irgendwie, aber nicht auf diese strenge teenager-weise, eher angenehm als unangenehm, nach selbstgedrehten zigaretten, nach etwas zu lange auf dem sofa gesessen und ferngesehen, nach suppe und zuhause, ein wenig nach old spice oder einem standardrasierwasser aus der discount-drogerie, einem zimmer das man gerne betrat, leicht ungelüftet, aber dabei gemütlich. nach jemandem, den man oft und gerne um sich hatte. so wie mädchen wenn man sie mochte einfach immer nur nach freundin rochen. sicherlich würden andere raiko eine kleine dosis parfüm verordnen, aber sie fand das so viel angenehmer als zum beispiel bei peer. jedesmal wenn sie hinter dem tresen stand und er sich viel zu nah an ihr vorbei schob, um sein zugangsrecht als chef zu demonstrieren, schwappte eine klebrige wolke aus solarium und kaubonbon über sie hinweg. genauso roch es wenn man eine dose red bull öffnete. aufdringlich und überpflegt, wie in einer grossraumdiskothek auf dem land, in der man weisse breitcordhosen zu weissen socken und weissen sneakern trug, um das ganze mit weissen pullovern zu kombinieren. unwillkürlich musste sie kichern. das hätte jetzt auch von raiko kommen können. mit dem hatte sie gerade wirklich eine feine zeit. mit ihm machte sie so sachen wie zum hundertsten male die legende von paul und paula anschauen und danach im dunkeln am paul und paula ufer entlangzulaufen, um auf der paul und paula bank noch ein bier zu trinken. egal wie kalt es war.
oder sie holten sich beide eine decke und kuschelten sich darin gemütlich aufs sofa. der tee war warm, die glotze lief und meistens schlief sie dann wie umgemäht tief und friedlich ein. raiko deckte sie, bevor er sich leise auf den heimweg machte, immer noch mal richtig zu. heute würde sie das ohne ihn versuchen, wenn sie den schal wieder unter das kissen packte war es doch fast so, als würde er neben ihr sitzen und so lange erzählen, bis seine worte sich zu einem leisen gemurmel entfernten und sie sich endgültig für einen traum entschieden hatte. ja, sie konnte raiko gut leiden, genauso wie sie peer eben nicht riechen konnte.
wie sie wohl roch? sie schnüffelte probehalber in der ellenbeuge, unter den achseln, hielt sich die handinnenfläche vor die nase. konnte aber nichts prägnantes finden. sie hatte keine schwitzigen hände und sie benutzte ein verdammt gutes deo, das war das einzige, was sie feststellen konnte. wie nahmen eigentlich jungs den geruch von mädchen war? klopfte denen manchmal auch das herz bis zum hals und darüber hinaus? als sie bei ihrer ersten begegnung neben sören stand, war es diese nur angedeutete spur von parfüm, ein hauch von sand, alkohol, aber kein suff. von unterwegs, nachtleben und tanzen. alles perfekt abgestimmt auf den geruch von körper. ja, sören schwitzte, er war unterwegs, roch wie eine sonnenkatze, nur männlicher. leicht salzig. unrasiert, aber nicht zu sehr, bloss ein paar stunden. er war einer von den typen aus den calvin klein spots der neunziger. sie wusste zwar nicht wie sören mit nacktem oberkörper aussah, aber in etwa so stellte sie ihn sich vor.
während sie tiefer in den schlaf abtauchte hörte sie sich selbst von der einen seite geniesserisch mit der zunge schnalzen, von der anderen seite aus schellte ihre türklingel. wer mochte das bloss sein? um diese uhrzeit? noch ganz benommen nahm sie den hörer der gegensprechanlage ab. beide sprachen gleichzeitig.
„ich habe gestern meinen schal bei dir liegenlassen. kann ich kurz hochkommen?" und sybille sagte: „ich habe schon auf dich gewartet sören, komm rauf."
und dann hörte sie raiko sagen: „ich schau besser morgen noch mal vorbei."