20.07.10

episode 19

die warschauer brücke war möglicherweise der zugigste ort der welt. jedenfalls konnte sybille sich nicht entsinnen, jemals irgendwo so lange bewegungslos und mit vom wind rissig gebissenen lippen herumgestanden zu haben. gott sei dank hatte sie sich warm genug angezogen. dabei war das eine rein modische entscheidung. ihr schon im sommer gekauftes, gelb eingefärbtes palituch, passend dazu die weissen moonboots mit ebenfalls gelb abgesetzten nähten. ihre nasenspitze war mittlerweile kaum noch zu spüren. trotz alledem stellte sie zu ihrer überaschung fest, dass sie sich wohl fühlte. mit der dämmerung hatte sie das haus verlassen, um sich mit raiko auf der modersohnbrücke zu treffen. von dort aus waren sie den osthafen entlang gegangen, um jetzt von hier aus das gleiche panorama zu sehen. dieses komische neue stadion war auf einmal beängstigend gross und je länger sie darauf starrte, desto unwirklicher sah es aus. wie ein ufo. auf dem metrodach glänzte das flutlicht, so dass man den fernsehturm fast nicht mehr sehen konnte. schade eigentlich. was wohl passierte, wenn auf dieser brache noch weitere bauten entstehen würden? raiko dozierte schon seit geraumer zeit mit weit ausholenden gesten über die anstehenden bauvorhaben. ein seltsamer spaziergang war das. sie hatten sich kurz begrüsst und waren anfangs schweigend nebeneinander her gelaufen. irgendwann hatte raiko zu reden begonnen und seitdem auch nicht mehr aufgehört. angenehm, dass er keinerlei fragen stellte. ein kurzes „wie geht’s dir?“ und ihre gemurmelte „ja, gut“ antwort war eigentlich alles gewesen. eingehüllt in die dunkelheit stand sie auf der brücke, der wind riss raikos monolog in einzelne hauptwortfetzen auseinder, während auf der anderen brückenseite eine lärmende karawane von s- und u-bahnhof nach friedrichshain strömte. das ganze hatte etwas beruhigendes. sie konnte sich gar nicht erinnern, raiko überhaupt kennengelernt zu haben, er war ab einem unbestimmten zeitpunkt schlicht und einfach immer wieder aufgetaucht. fest stand, dass er ständig den kontakt suchte, ihr seine telefonnummer mehrmals geradezu aufgedrängt hatte, sich mit ihr tagsüber treffen wollte. unter feierleuten, die privat sonst nichts verband, schien ihr das ein tabu zu sein. man begegnete sich doch eh ständig. und wenn man sich tagsüber sah, dann auf einer afterhour oder einem chill out, eingeklemmt zwischen zwei nächten und garantiert nicht nüchtern. umso erstaunlicher, dass es ihr genau heute an diesem unwirtlichen ort so selbstverständlich erschien, neben ihm zu stehen, und einfach „die stadt zu gucken“, wie er es nannte. sie dachte immer er wolle sie anbaggern, aber war das wirklich der fall? vielleicht fand er sie einfach nur nett. jedenfalls hatte er nicht versucht sie anzufassen. nur die typische handschlag begrüssung. keine partyküsschen auf die wange, wie das ihre alte clique immer mit allen getan hatte. „sag raiko“, entfuhr es ihr mit einem mal, „wenn du an meinem geburtstag auch da wärst, das fände ich schön!“

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