20.07.10

episode 21

weihnachten war älter geworden. nicht anders, nicht besser oder schlechter, bloss älter. gedankenverloren steuerte sybille ihre lupine zurück nach berlin. aus den augenwinkeln sah sie manchmal jules redenden mund. immerzu hampelte und plapperte die herum, kramte in ihrer tasche, um sybille irgendwelche gegenstände zur ansicht unter die nase zu halten.
ja, weihnachten war tatsächlich gealtert. als sybille am tag vor heiligabend eintraf, klagte dad über die beschwerlichkeiten des weihnachtsbaumkaufs. „diesmal nur einen kleinen, du bist ja so oder so nur ein paar tage hier und deiner mutter und mir reicht der vollkommen aus. geschmückt haben wir auch nicht so viel. warum sollen wir den baum so überladen und extra den ganzen christbaumschmuck aus dem hintersten winkel hervorsuchen? so ist es doch viel schöner.“ früher hatte er sybille mit dem schlitten durch die strassen gezogen und mit ihr so lange gesucht, bis sie den richtigen baum gefunden hatten. den banden sie dann auf dem schlitten fest und es blieb sogar noch zeit für eine gelegentliche schneeballschlacht. aber schnee gab es ja auch nicht mehr. „... und die ganze kocherei, dieses jahr nehm' ich rotkohl aus dem glas. den unterschied merkt ausser deiner grossmutter eh keiner, oder meinst du, dein onkel werner interessiert sich dafür? nur damit alles in fünf minuten herunter geschlungen wird!“ beklagten die beiden sich etwa über die last der vergangenen weihnachtsfeste?
mum und dad hatten sich augenscheinlich auf ein leben ohne sybille eingerichtet.
als sie das gepäck in ihr altes zimmer brachte, musste sybille erstmal wäscheständer und bügelbrett beiseite räumen. die löcher, die sie beim auszug hinterlassen hatte, waren geschlossen worden. im schrank hingen die halb ausrangierten kleider von mum und warteten auf ein abschliessendes urteil, im bücherregal standen die alten bestseller schinken, die schon im wohnzimmer in die obersten oder untersten regalreihen verbannt waren; hinter blumenvasen und allerlei nippes versteckte simmels, konsaliks und pilchers. die peinliche verwandtschaft, die man beim essen so platzierte, dass sie niemanden störte. sonst war alles wie immer. nur älter eben und langsamer.
am heiligabend frühstück, danach ein langer spaziergang mit mum und dad. mittags gab es würstchen mit kartoffelsalat, dann legte man sich zur mittagsruhe, dann begann das warten auf opa heinrich und oma lisbeth, die am späten nachmittag aus lübeck angereist kamen. das signal zu kaffee trinken und bescherung. opa heinrich betrieb wie immer kulturkritik. thema in diesem jahr: sinn und unsinn digitaler bilderrahmen. der digitale bilderrahmen nämlich entfremde von der entscheidung für ein bestimmtes bild, die möglichkeit wechselnder bildanzeige und der grosse vorrat auf einer speicherkarte erzeuge schlichtweg beliebigkeit etc. pp. und so weiter und so weiter. im gegenzug verwies sybille auf die renaissance des bastelbogens, die es in berlin in den kleinen design-läden gab. mit neuartigen, zeitgemässen motiven. oder das döner-quartett. dann wurde endlich abendbrot gegessen. sybille floh anschliessend in den postkeller, wo sich alle über weihnachten heimgekehrten trafen und warf sich in das gewoge gegenseitigen umarmens. dörte war aus london gekommen und kündigte den baldigen umzug nach berlin an. sascha hatte sich für drei jahre verpflichtet um endlich mal einen panzer zu fahren, „und studieren kann ich da auch [zum studieren müssen es 12 jahre sein]“ wie er kindisch herumbrüllte. mir nichts dir nichts war jules auf sie zugestürzt und knutschte sie ab, als hätten sie sich im letzten halben jahr täglich gesehen. dabei hatte sie anscheinend nicht einmal bemerkt, dass sie sybilles geburtstag vergessen hatte.
sybille warf einen blick auf den beifahrersitz. selbstverständlich hatte madame es dann doch nicht pünktlich zur abfahrt geschafft, sondern eine halbe stunde später telefonisch darum gebeten, abgeholt zu werden. seitdem redete sie in einem fort, wechselte alle naselang die musik und rauchte kette. jede fünfte war vermutlich ein mini joint. immerhin überdeckte der grasgeruch den gestank nach ausgelassenem gänsefett, der seit dem ersten weihnachtstag in sybilles kleidern hing. die obligatorische gans hatte zum himmel gestunken, als sie nach dem postkeller besäufnis aufwachte. seitdem befand sie sich in einem von brechreiz dominierten dämmerzustand. schweigend ertrug sie onkel werners angetrunkenes gelalle, opas professoralen tonfall und mums sorgenvolle fragen, so wie sie auch jules ausführliche sylvesterplanungen ertrug. wenn einem von einer geplanten party berichtet wird, überlegte sie, als die lichter berlins vor ihr auftauchten, war man dann automatisch eingeladen?

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